Sachzwang
Seit 100 Jahren heult der Maschinenwind des technologischen Fortschritts durch unsere Straßen,
entfesselt von bedruckten Papier, von der myriadenfachen flatternden Hast der Scheine, vom Ventilator
der Kapitalzirkulation. Es stinkt nach Benzin und Adrenalin, so wie es in früheren Jahrhunderten nach
Weihrauch stank, und im Fahrtwind kreuzen die automobilen Kriegsflotten der Konzerne in
hegemonialer Machtfülle durch unsere Lebenswelt. Unter dem Diktat der Funktionalitãt dienen wir als
willige Steuerleute, doch wie wir auch das Ruder legen - unsere Mobilitätssucht schmiert immer aufs
neue die Nabe der Windmaschine Kapitalverwertung. Auch wir sind der Schrei nach Autobahnen, nach
Infrastrukturmaßnahmen, auch wir sind der Sachzwang, der noch breitere Transportschneisen durch
unsere Städte schlägt. Die einen mehr - die anderen weniger.
Es verwundert nicht: Den automobilen Wahn lernten wir schon vom Kinderwagen aus als Normalität zu
akzeptieren, die Autorität der Ampeln und die Apartheid im sogenannten öffentlichen Raum wurde uns
mit den ersten, unbeholfenen Schritten eingeimpft. Zu unserem Schutz natürlich. In diese Welt sind wir
geboren - alle in einem Boot.
Wer ist nicht RealistIn genug, die Zwänge der Zivilisation mehr oder weniger zu akzeptieren und soweit
möglich, für sich zu nutzen?
Doch wer ist nicht RealistIn genug zu erkennen, daß die Zwänge der automobilen Zivilisation nur
Spiegel unserer eigenen zwanghaften Selbstbeschneidung und Selbstbescheidung sind?
Wer zwingt uns, über die Straßen dieser Stadt die Flotte der Automobilkonzerne zu steuern, anstatt auf
dem Asphalt zu tanzen und zu feiern? Wer zwingt uns, ängstlich im Boot der Straßenverkehrsordnung
zu hocken, anstatt ins kühle Naß zu springen und uns frei zu schwimmen? Wer zwingt uns zum Bückling
auf dem Trottoir, wo wir doch viel eleganter und mit Lust auf der Kreuzung vor der Blechlawine
unseren Diener machen?
Entreißen wir den Raum zwischen unseren Häusern den Strategen der Waren- und Menschenlogistik!
Verwandeln wir die Transportschneisen zwischen den Wohnstätten zu Orten der Begegnung,
überbrücken wir, was uns im Alltag als natürlich getrennt vorgegaukelt wird! Feiern wir dort, wo sonst
nur funktioniert wird! Geben wir der Straße für Stunden ein menschliches Antlitz zurück - geben wir ihr
die Menschen zurück! Uns!
Reclaim the streets!
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